Heilige Kümmernis




 

Begleitend zu den Sanierungsarbeiten möchten wir Ihnen die einzelnen Bilder und Bilderzyklen vorstellen und kurz darauf eingehen. Dies geschieht keineswegs mit wissenschaftlichem Anspruch, sondern lediglich aus dem Blickwinkel des aufmerksamen Betrachters.
Beginnen wollen wir dabei in diesem Jahr mit der Darstellung der heiligen Kümmernis.
Das stark verwitterte Bild findet sich auf der untersten Ebene der Wandmalereien auf der Südwand, unterhalb der Chorempore.
Für die religiöse und ikonografische Bedeutung dieser Heiligendarstellung hat Prof. Dr. theol. Manfred Becker-Huberti aus Köln folgende Worte gefunden:

„Ob Sankt Caritas, Comera, Cumerana, Eutropia, Hilfe, Hulpe, Hülpe, Liberata, Liberatrix, Ontcomera, Ontkommene, Ontkommer, Gwer, Sankt Wilgefortis oder Sainte Affligée – gemeint war immer die heilige Kümmernis, eine ‚mythologische Volksheilige fraulicher Sorge und Abwehr‘. Mit diesem Namen wurde seit dem 15. Jahrhundert eine angeblich ‚selige Jungfrau‘ bezeichnet. Der Name der nicht kanonisierten Volksheiligen, deren Legende aber Bestandteil des Martyrologium Romanum wurde, scheint in wortspielerischer Form auf ihre besondere Hilfe bei Kummer und Not hinzuweisen. Redensartlich werden entsprechende Vergleiche gezogen: ‚Aussehen wie die heilige Kümmernis‘ oder ‚sein wie die heilige Kümmernis‘: sich um alles kümmern, überall eingreifen, sich fremde Sorgen zu den eigenen machen.
Die heilige Kümmernis galt als Tochter eines portugiesischen Heidenkönigs, die als Christin einen heidnischen Prinzen heiraten sollte. Da sie ihrem christlichen Glauben treu bleiben wollte, gelobte sie Jungfräulichkeit und bat Christus um einen Bart, der sie völlig entstellte.
Die Legendenvarianten berichten unterschiedlich: Entweder wurde sie vom Vater verstoßen und/oder sie wurde auf Veranlassung ihres wütenden Vaters an ein Kreuz gebunden/genagelt. Mit der Legende von der heiligen Kümmernis verbunden ist die Sage vom armen Spielmann, dem sie ihren goldenen Schuh zuwarf, als er vor ihrem Bild spielte. Der daraufhin des Diebstahls angeklagte Geiger bewies seine Unschuld, indem er, erneut vor dem Bilde bittend, von der Heiligen den zweiten Schuh zugeworfen bekam.

Die Legende wird mit einem missverstandenen Kruzifix, Il Volto Santo, im Dom zu Lucca in Verbindung gebracht. Hier wird Christus nicht als der Leidende, sondern als der Triumphierende am Kreuz dargestellt, mit Krone und einem Faltengewand. Dieses damals nördlich der Alpen ungewöhnliche Kruzifix hat offensichtlich die Fantasie seiner norddeutschen Betrachter angeregt und führte zur Erzählung von der gekreuzigten Jungfrau. In den Wurzeln geht die Legende zurück in die Frühzeit des Christentums, festigt sich im Hochmittelalter und verknüpft sich mit der vagabundierenden Novelle vom armen Spielmann, dem die gekreuzigte Kümmernis ihren goldenen Schuh zuwirft. Die Verbindung der heiligen Kümmernis mit dem Volto Santo von Lucca ergab sich durch das Unverständnis gegenüber dem bekleideten Christus am Kreuz. Frühester Kultort ist Steenbergen in den Niederlanden, von wo Wunderheilungen berichtet wurden.

Die kultische Verehrung der heiligen Kümmernis (als heilige Wilgefortis mit Fest am 20. Juli in den Kalender aufgenommen) kann um 1400 erstmals nachgewiesen werden, verbreitete sich im Barock, wurde im 18. Jahrhundert eingeschränkt und erlosch in Nordwesteuropa faktisch im 20. Jahrhundert. Für die Zeit um 1350 bis 1848 sind etwa 1000 literarische und ikonografische Zeugnisse vom Niederrhein bis nach Böhmen, von Nord- und Ostsee bis nach Tirol und die Schweiz belegt. Auch in Frankreich und England ist der Kult der Kümmernis nachweisbar. Heute ist die Legende von der heiligen Kümmernis im Deutschsprachigen nur noch in Schlesien, Bayern und Österreich verbreitet.“

Wie bereits erwähnt befindet sich das Wandbild in einem nur noch schwer zu deutenden Zustand. Erkennbar ist der bärtige Ornat der Heiligen, Teile des Gewandes und die ausgebreiteten Arme am Kreuzbalken. Deutungen zu der die Darstellung einbindenden Architektur sind nur noch schwer möglich. Am unteren Bildrand lassen sich rechts und links schemenhaft Stifterfiguren und mittig eine Wappenkartusche erahnen. Grauschleier und weitere Verunreinigungen trüben darüber hinaus den Gesamteindruck.
Interessant wäre bei der Restaurierung des Wandbildes die Frage, ob sich durch spezielle Verfahren verblasste oder offensichtlich nicht mehr erkennbare Bildteile wieder sichtbar machen lassen, um dem Bild zu neuem Leben zu verhelfen.

Einen weiteren Aspekt im Kontext aller Wandbilder in der St.-Jodok-Kirche bildet das Nebeneinander des sogenannten Hühnerwunders auf der Nordwand der Kirche mit dem gegenüberliegenden Bildnis der heiligen Kümmernis.
Die Entstehungszeiten der großen Jakobuslegende (um 1480) und des Bildnisses der heiligen Kümmernis (wohl aus der Mitte des 16. Jhs.) liegen zeitlich sehr nah beieinander, was den Schluss vermuten lässt, dass beide Wandbilder damals wie heute zusammen sichtbar waren.
(Bei dieser Gegenüberstellung spielt die Darstellung der Jakobuslegende an der Brüstung der Chorempore aus dem 18. Jahrhundert keine Rolle, da die beiden zuvor genannten Wandbilder bzw. Zyklen zu deren Entstehung bereits im Rahmen umfangreicher Neugestaltungsarbeiten übermalt waren.)
Nicht die Legende des jeweiligen Heiligen, sondern das wiederum als Sage oder Novelle angeführte Beispiel dessen Wundertätigkeit eröffnet die Gemeinsamkeit.
Die St.-Jodok-Kirche war neben ihrer Funktion als Kirche für die Bevölkerung der Neustadt auch Kirche der St.-Jos-Bruderschaft. Deren Mitglieder, allesamt nachgewiesenermaßen ehemalige Pilger, hatten wenigstens eine Reise zu den damals bedeutenden Pilgerstätten Rom, Jerusalem, Sankt Jago de Compostella oder Aachen hinter sich gebracht. Reisen war im Mittelalter überaus gefährlich, und nicht wenige der Pilger bezahlten ihre Pilgerschaft mit dem Leben.
Ursache des beispielhaft erfahrenen Unrechts war in beiden Fällen ein dem Reisenden unterstellter Diebstahl von Seiten einer ortsansässigen Person. Man darf diesen Umstand als Ermahnung verstehen, sich in der Fremde stets vorsichtig und besonnen zu verhalten.
Auch wird dem Reisenden in beiden Fällen durch die Fürsprache des Heiligen ein Klima des Trostes und höherer Gerechtigkeit vermittelt.
Mit Sicherheit waren den Menschen des Mittelalters die jeweiligen Legenden vertraut. Als Bestandteil des täglichen Lebens stand die Richtigkeit der jeweiligen Aussage außer Frage. Sie galten als Wahrheiten und wurden „geglaubt“.
Wichtig war den Stiftern der Wandbilder sicherlich, darauf hinzuweisen, dass sowohl in Richtung Spanien als auch Rom die Gefahren durch die einheimische Bevölkerung nicht zu unterschätzen sei, was wiederum kein gutes Licht auf die Menschen warf, die von den Reisenden lebten. Recht oder Unrecht war oft eine Laune der Machtverhältnisse vor Ort und lokal geregelt.
So kann man diese Wandbilder in der St.-Jodok-Kirche als praktischen Verhaltenskodex auf Reisen betrachten, auf dessen jeweiligen Umstand drastisch hingewiesen wurde, um unbeschadet ans Reiseziel zu gelangen.








Wandbild der Heiligen Kümmernis
Südwand, rechts unter der Chorempore


























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